Die Frage, inwieweit Tiere über ein echtes Zeitgefühl verfügen, ist nicht so einfach zu beantworten und das nicht nur, weil bei Tieren die entsprechenden Kommunikationskanäle fehlen, um sich mit dem Menschen über zeitliche Belange auszutauschen. Somit liegt es einzig beim Menschen, durch beobachtende Studien herauszufinden, welches Verhalten lediglich auf biologische Rhythmen aus dem Bereich der Chronobiologie beruht und welches auf eine echte Zeitwahrnehmung bzw. auf ein Zeitempfinden.
Im Gegensatz zum Menschen leben Tiere scheinbar in den Tag
hinein, eine Uhr oder gar das Klingeln eines Weckers ist ihnen fremd. Doch auch der
Mensch könnte ohne eine Uhr oder einer Zeitansage kaum allmorgendlich nach dem Erwachen
richtig einschätzen, ob es 4 Minuten vor oder 3 Minuten nach dem eigentlich idealen
Zeitpunkt fürs Aufstehen ist. Warum sollte es Tieren anders ergehen?
Wer die letzte Frage für sich beantworten möchte, könnte zu dem Schluss kommen,
ein auf die Minute genauer Zeitpunkt ist weder für uns noch für Tiere ideal oder
natürlich bedingt, sondern dient dem Menschen lediglich für eine Synchronisation
mit den Fahrplänen von öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit schulisch bzw. betrieblich
festgelegten Zeiten.
Zu welchen Tageszeiten sich Tiere hingegen auf die alltägliche Nahrungssuche oder
auf die Jagd begeben, wird mehr oder weniger allein durch den biologischen Rhythmus
bestimmt, auf 4 Minuten früher oder 3 Minuten später kommt es dabei kaum an. Und dieser
biologische Rhythmus wiederum wird für alltägliche Abfolgen (circadianer
Rhythmus) vorrangig (soweit bisher bekannt) über die Intensität des
Umgebungslichtes synchronisiert.
Dass bei dieser Synchronisation für den Menschen und für viele Tier- und Pflanzenarten
das Tageslicht eine entscheidende Rolle spielt, scheint auf der Hand zu liegen. Der
Leser sollte dabei jedoch bedenken, dass bei einigen Tierarten das Mondlicht
ebenfalls von Bedeutung ist. Nebenher gibt es noch Lebensformen, die in stetiger
Dunkelheit ihr Leben fristen und dennoch über eine innere Uhr verfügen. Nur sind
diese Arten noch nicht so gut erforscht.
Doch wie bereits unter "Wie entsteht unser Zeitgefühl"
vermerkt, unsere innere Uhr bereitet uns nur indirekt aufs morgendliche Aufstehen
vor, ebenso wie auf unsere täglichen Aktivitäten oder auf ein kleines Nickerchen am
Nachmittag. Indirekt, denn im Gegensatz zu einer richtigen Uhr schupst unsere innere
Uhr nur biologische Vorgänge an oder lässt diese wieder abklingen. Nur ein richtiges
Zeitgefühl, z.B. um die Länge eines Zeitintervalls zu schätzen, vermittelt sie uns
nicht.
Das unbewusste Zeitgefühl von Tieren unterscheidet sich im Wesentlichen nicht vom
menschlichen, insofern das individuelle Erinnerungsvermögen einer Spezies berücksichtigt
wird. Um die Länge eines zeitlichen Intervalls zu schätzen oder messtechnisch zu
erfassen, bedarf es Zeitpunkte, gleich ob diese in der Erinnerung nur als Ereignisse
auf einer Art von neuronaler Timeline vermerkt werden oder ob es sich lediglich um
mit technischen Mitteln erstellte Zeitpunkte handelt. Letztere werden in der
belebten Natur nicht benötigt, so sind nachfolgend nur erstere von Interesse.
Weiterhin wird für die Schätzung von kurzen Zeitintervallen vermutlich noch ein eigener
Taktgeber benötigt, wie z.B. die Herzfrequenz beim Menschen.[1]
Bei Tieren könnten hingegen anatomisch und evolutionär bedingt je nach Art und Lebensweise
weitere Taktgeber ins Spiel kommen, wie z.B. die Frequenz des Flügelschlages. Die
Betonung dabei liegt auf könnten.
Im Gegensatz zum unbewussten Zeitgefühl dürfte sich das bewusste Zeitgefühl hingegen
erheblich vom menschlichen Zeitempfinden unterscheiden bzw. nur bei höher entwickelten
Lebensformen ansatzweise vorhanden sein. So verliert sich ein Tier nicht in Gedanken,
welche um Ereignisse aus der Vergangenheit kreisen und schmiedet auch keine Zukunftspläne.
Dort, wo zukünftiges Verhalten geplant werden muss, z.B. um an einen Leckerbissen
zu gelangen, geschieht es bei höher entwickelten Tieren aus der Situation heraus.
Erwähnenswert wären noch Gemeinsamkeiten bei der täglichen Routine, denn an festgelegte
Essens- und Fütterungszeiten können sich Menschen wie Tiere gewöhnen. Wobei sich
auch domestizierte Haustiere an einer festgelegten Fütterungszeit gewöhnen, die in
ihrer natürlichen Umwelt einst eher vom unregelmäßigen Jagdglück abhängig waren.
Und wie empfinden Tiere im Vergleich zum Menschen Wartezeiten?
Vergeht die gefühlte Zeit beim Warten auf Frauchen oder Herrchen langsamer?
Nun, bei vielen vor Geschäften angeleinten Hunden könnte das Verhalten während der
Wartezeit darauf schlussfolgern lassen. Dennoch lässt sich nichts verallgemeinern,
da es nicht zuletzt auf die Art ankommt. Für Nesthocker ist es normal, dass die Jungtiere
allein im Nest verbleiben, während sich die Eltern auf Nahrungssuche begeben.
Zu den Nesthockern zählen nicht nur viele Vogelarten, sondern auch Nager und andere.
Auch Rehkitze und junge Feldhasen verbringen viel Zeit allein. Wobei allein wartend
bei vielen Arten nicht wirklich Alleinsein bedeutet, sondern getrennt von den Elterntieren,
jedoch im Kreis der Geschwister wartend.
Das Schätzen von Zeitintervallen ist bei einigen höher entwickelten
Arten nicht weniger ausgeprägt als beim Menschen, wie voneinander unabhängige Beobachtungen
ergaben. Wie weiter oben bereits erwähnt, die Fähigkeit ein Ereignis aus der Vergangenheit
mit einem weiter zurückliegenden Zeitpunkt aus der Vergangenheit zu verknüpfen, setzt
eine bewusste Erinnerung voraus und konnte bisher bei Tieren nicht nachgewiesen werden.
Das unbewusste Schätzen von Zeitintervallen konnte jedoch recht gut bei Tieren nachgewiesen
werden. So wurde in mehreren Studien, durchgeführt von Wissenschaftlern an der Universität
von Western Ontario, das Zeitgefühl von Ratten mit Hilfe von Leckerbissen in labyrinthähnlichen
Versuchsaufbauten getestet.[2]
Bei einer dieser Studien wurden in einem der Gänge des Labyrinths wiederholt Leckerbissen
in Form von Käse ausgelegt, jedoch nicht in allen Durchläufen des Experimentes. In
den anderen Gängen befanden sich als Köder jedoch nur gewöhnliche, für Ratten geeignete
Pellets oder nichts.
Um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, wurden die Ratten in drei Kontrollgruppen
aufgeteilt und die Zeiten für das Auslegen des Leckerbissens variierten dabei je
nach Kontrollgruppe. So wurden für eine der drei Kontrollgruppen die Leckerbissen
immer zu einer bestimmten Tageszeit ausgelegt, für eine andere Gruppe entsprechend
laut Plan festgesetzten Zeitspannen nach der letzten Darreichung und bei der dritten
Gruppe wurden beide zeitliche Einteilungen kombiniert.
Wie es heißt, so fanden die Ratten der Kontrollgruppe den Käse-Köder problemlos,
bei denen die Leckerbissen entsprechend einer vorgegebenen Zeitspanne ausgelegt wurden,
an einen bestimmten Zeitpunkt konnten sie sich hingen nicht erinnern.
Bei anderen Experimenten wurden die Versuchsbedingungen dahingehend gestaltet, dass
sich an den Enden der Gänge im Labyrinth kleine guillotineartige Türen befanden,
die sich von außen über Angelschnüre steuern ließen. Hinter den Türen wurden Pellets
in unterschiedlicher Anzahl angeboten, wobei die Anzahl der Pellets von definierten
Verzögerungszeiten bis zum Öffnen der Türen abhängig war. Der Versuchsaufbau bestand
dabei nicht wirklich aus einem Irrgarten für Ratten, sondern von einer zentralen
Plattform gingen acht einzelne Gänge strahlenförmig ab (siehe Skizze). Die
Verzögerungszeiten lagen im Sekundenbereich.
Die Auswertung der Experimente ergab, dass Ratten durchaus unter gewissen Voraussetzungen
dazu bereit waren, eine kleinere Verzögerungszeit in Kauf zu nehmen, wenn die zu
erwartende Belohnung dafür größer ausfiel. Zu den Voraussetzungen gehörte, dass ihnen eine Zeit
für die Gewöhnung an das Öffnen der Türen eingeräumt wurde und sie sich sicher vor
Fressfeinden fühlten.
Skizze des Versuchsaufbaus
Die Ergebnisse der Studien lassen weiterhin darauf schließen,
dass sich Ratten recht gut auf Zeitspannen einstellen können, falls diese Spannen
nicht zu groß sind. Eher weniger bis nicht hingegen auf bestimmte Zeiten bzw. auf
bestimmte Zeitpunkte, wie die zuerst erwähnte Studie ergab. Da dieses Zeitgefühl
sich nur auf Zeitspannen und nicht auf bestimmte Zeitpunkte bezieht, wird es von
einigen Wissenschaftlern als eine Form eines episodischen Gedächtnisses eingestuft.
Doch diese Studien mit Ratten sind nicht die einzigen, die auf das Vorhandensein
eines episodischen Gedächtnisses für Zeitspannen bei unterschiedlichen Arten aus
dem Tierreich schlussfolgern lassen. Nicht weniger erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang
eine Studie, die von Wissenschaftlern der Universität von Edinburgh durchgeführt
wurde. Im Verlauf dieser Studie wurde das Verhalten von Rotrücken-Zimtelfen (Selasphorus rufus),
einer Vogelart, die Ornithologen auch unter dem Namen Fuchskolibri bekannt ist, beobachtet
und ausgewertet.[3]
Bei dieser Feldstudie stellte sich heraus, dass die beobachteten Kolibris recht genau
einschätzen konnten, wie groß ein zeitlicher Intervall sein muss, bis eine bereits
besuchte Blüte erneut ausreichend Nektar zum Naschen gebildet hatte. Würden die kleinen
Flugkünstler diese Zeitspanne nicht einhalten, wäre der energiezehrende Anflug umsonst.
Würden sie hingegen zu lange warten, könnte ihnen zwischenzeitlich ein anderer Kolibri
zuvorkommen, um sich genüsslich zu laben.
Es sei angemerkt, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, wurden die Kolibris
bei der Nahrungssuche durch aus Kunststoff nachgebildete Blüten unterstützt, die
in Intervallen von 10 und 20 Minuten nach jedem Besuch des Vogels erneut mit einer
zuckrigen Lösung befüllt wurden. Jedem Kolibri wurden dabei acht künstliche Blumen
mit ebenso künstlichen Blüten in seinem Revier angeboten. Die Blüten, die bereits
nach 10 Minuten erneut befüllt wurden, wurden auch von den Kolibris nach einer deutlich
kürzeren Zeitspanne erneut angeflogen.
Die an der Studie beteiligten Ornithologen gehen davon aus, dass Kolibris ebenfalls über ein
episodisches Gedächtnis verfügen. Ein episodisches Gedächtnis, welches den kleinen
Vögeln ermöglicht, sich die Zeitspannen bis zur Nachfüllung von mindestens acht Blüten
in ihrem Revier für die Dauer eines Tages einzuprägen.
Neben Ratten und Kolibris besitzen Robben ebenfalls ein nicht minder ausgeprägtes
Zeitgefühl, wie eine Studie, durchgeführt im Marine Science Center
der Universität Rostock, ergab.[4]
Für die Experimente wurde ein Seehund (Phoca vitulina) dahingehen trainiert,
auf Kommando seinen Kopf in einer entspannten Position in einen Ring zu legen. Rechts
und links neben diesem Ring befanden sich Kugeln zum Antippen. Die eigentliche Aufgabe
für den Seehund bestand in der Erkennung der Länge von Zeitintervallen, die ihm als
heller Kreis auf einem Monitor präsentiert wurden. Durch das Antippen einer von beiden
Kugeln sollte der der Seehund signalisieren, ob die Einblendung länger oder gleichlang
wie die vorausgehenden Signale der jeweiligen Testreihe war. Für jede richtige
Reaktion gab es Fisch zur Belohnung.
Der Raum, in dem die Experimente durchgeführt wurden, wurde gegenüber äußeren Lichteinflüssen
abgeschottet, um unter konstanten Lichtverhältnissen im Testraum eindeutige Resultate
zu erzielen. Die Studie wurde über einen Zeitraum von 12 Monaten an 5 bis 6 Tagen
pro Woche durchgeführt und ergab, dass Seehunde in der Lage sind, Zeitintervalle
teilweise bis in den Millisekundenbereich hinein zu unterscheiden.
Nicht nur die erwähnten Studien bestätigen, dass vermutlich
alle Tiere, für die Zeitspannen und zeitliche Intervalle fürs Überleben von Bedeutung
sind, diese erfassen und fühlen können. Das Zeitgefühl von Tieren sollte dabei jedoch
keinesfalls mit dem menschlichen gleichgesetzt werden, da ein Unterschied in der
bewussten Erinnerung an vergangene Zeiten und in der bewussten Planung der Zukunft
besteht. Ein Tier kennt keine Uhr und ob ein Tag, Monat oder Jahr schnell oder langsam
verging, wird kaum ein Tier einschätzen können, denn es lebt nicht in der Erinnerung
und plant nicht bewusst für die Zukunft.
Dennoch sollte der Leser bedenken, alle Gefühle und Verhaltensweisen des Menschen
waren in Ansätzen bereits bei unseren tierischen vorhanden, aus denen sich erst der
Reichtum unserer heutigen Gefühlswelt und unsere heutigen Verhaltensweisen und
entwickeln konnten.
Weitere Themen, Fragen und Antworten
Wie entsteht unser Zeitgefühl?
Diese Frage ist noch nicht restlos geklärt. Es weist jedoch vieles darauf hin, dass
es kein spezielles Sinnesorgan für die Wahrnehmung der Zeit gibt.
[mehr ...]
Vergeht die Zeit mit jedem Lebensjahr etwas schneller?
Ja und Nein, wobei sich das "Ja" nur auf die subjektive Wahrnehmung der Zeit bezieht.
[mehr ...]
Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare:
1 K. Meissner, M. Wittmann, Body Signals, Cardiac Awareness, and the Perception of Time, Biological Psychology, (2011) 86, 289–297, doi:10.1016/j.biopsycho.2011.01.001
2 M.C. Feeney, W.A. Roberts, Rats show preference for delayed rewards on the radial maze, Learning & Behavior, (2008) 36: 42, doi:10.3758/LB.36.1.42
3 J. Henderson, T.A. Hurly, M. Bateson, S.D. Healy, Timing in Free-Living Rufous Hummingbirds, Selasphorus rufus, Current Biology 16, 512–515, (2006), doi:10.1016/j.cub.2006.01.054
4 T. Heinrich, G. Dehnhardt, F.D. Hanke, Harbor seals (Phoca vitulina) are able to time precisely, Animal Cognition (2016) 19(6): 1133-1142, doi:10.1007/s10071-016-1020-3