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Kann ein Mensch sein Zeitgefühl verlieren?

Beispiele aus der Chronometrie und der Chronologie

Dass die Zeit in gewissen Situationen unterschiedlich schnell vergehen kann, hat gewiss jeder Mensch bereits mehrfach erlebt. Beispiele ließen sich genü­gend finden und so soll stellvertretend als Kulisse für eine kleine einführende Versinn­bildlichung ein Tante Emma Laden aus der alten guten Zeit dienen. Diese Kulisse betreten kurz hintereinander zwei Frauen, doch während die erstere bedient wird, beginnt sich zwischen ihr und der Verkäuferin ein anre­gendes Gespräch über Gott und die Welt zu entwickeln.
Die Zeit wird für ihr wie im Fluge vergehen, so lange wie sie in dieses Gespräch vertieft ist. Anders für die Frau, die nach ihr den Laden betrat und seit über 5 Minuten ungeduldig darauf wartet, dass der Tratsch zwischen Verkäuferin und Kundin 1 endlich ein Ende finden möge.
Beide Kundinnen haben in diesem kleinen Beispiel ihr Zeitgefühl verloren, denn für Kundin 1 verstrichen diese 5 Minuten eher überdurchschnittlich schnell, für Kundin 2 eher überdurchschnittlich langsam.

Doch Vorsicht, bei einer näheren Betrachtung ist zu berücksichtigen, ob das Zeitgefühl bei zeitlichen Intervallen im Bereich der Chronometrie oder im Bereich der Chronologie verloren ging. Zur Chronometrie gehören Zeit­spannen, die sich mit einer Uhr oder einem Chronometer erfassen lassen, wie Sekunden, Minuten oder Stunden. Zur Chronologie gehören hingegen Zeit­räume, die sich chronologisch an Hand eines Kalenders ordnen lassen, wie Tage, Wochen, Monate oder Jahre.

Nachfolgend sollen einige der Begleitumstände aufgeführt und etwas näher be­leuchtet werden, unter denen ein Mensch sein Zeitgefühl verlieren kann. Wobei die auf dieser Seite erwähnten Punkte keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und eher einer allgemeinen Übersicht entsprechen.


Übersicht › Verlust oder Veränderung des Zeitgefühls:


Verlust des Zeitgefühls durch Isolation

Das Isolation zum Verlust des Zeitgefühls führen kann und hier insbesondere im Bereich der Chronologie, konnte erstmals durch einen Selbstversuch des Geologen und Chronobiologen Michel Siffre im Jahre 1962 nachgewiesen wer­den.

Siffre stieg für seinen ersten Versuch in die Gletscherhöhle Scarasson hinab, gelegen in den südfranzösischen Alpen. In dieser Höhle verbrachte er zwei Monate, abgeschottet von der Außenwelt und bei spärlicher Beleuchtung. Sein bescheidenes Lager schlug er in einer Tiefe von rund 100 Metern auf, die Temperatur lag in Nähe des Gefrierpunktes. Mit der Außenwelt blieb Siffre lediglich telefonisch mit einem Basislager verbunden, in dem Studenten Wache hielten. Zu diesem Basislager wurde vor dem Start des Langzeitexperimentes ein Telefonkabel verlegt.
Vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen, gab Siffre seine subjektiv ge­fühlten Zeitangaben per Telefon an die im oberirdischen Lager Wache halten­den Studenten durch. Diese durften dem freiwilligen Einsiedler jedoch umge­kehrt keine Angaben darüber machen, ob es Tag ist oder Nacht, auch keine sonstigen Angaben, die Siffre einen Rückschluss auf die aktuelle Tageszeit er­mög­licht hätten.

Das Erste, was bei diesem Langzeitversuch verloren ging, war nach den An­gaben von Siffre der vollständige Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses. Ohne eigene Notizen zu machen, konnte er sich weder daran erinnern, was er einen Tag zuvor gemacht hatte, noch ob er eine Schallplatte in den letzten Minuten bereits abgespielt hatte oder nicht. Wobei ein Plattenspieler zu den wenigen und eher als mini­malistisch zu bezeichnenden Luxusartikeln in der Höhle zählte.

Bemerkenswert war einst die Auswertung und ist es bis heute geblieben. Während für Siffre der Tag, bestehend aus Wach- und Schlafenszeiten gefühlt nach eigener Einschätzung auf zirka 15 Stunden schrumpfte, tickte seine innere biologische Uhr in einen Rhythmus von 24,5 Stunden (0,5 Stunden entspricht 30 Minuten) weiter und das trotz stetiger Unterkühlung. Seine Körpertemperatur war, bedingt durch das Höhlenklima, bereits in den ersten Tagen auf 34 °C gesunken.
Weiterhin war bemerkenswert, als er am 14. September von seinen Assis­tenten im Basislager die Benachrichtigung erhielt, dass die Zeit der freiwilligen Isolation vorbei sei, wollte er dies anfänglich nicht glauben. Für ihm war es erst der 20. August gewesen, nach seinen Notizen ebenfalls. Michel Siffre hatte somit ganze 25 Tage in der Gletscherhöhle verloren.


Überleben extrem - Isolation

Verlust des Zeitgefühls bei psychischen Erkrankungen

Dass es sich bei Depressionen um ernsthafte Erkrankungen handelt, dürfte allen auf­geschlossenen Mitmenschen unserer Tage klar sein oder sollte es zu­mindest. Dass Depressionen neben allgemeinen Symptomen, wie Niederge­schlagenheit oder Resignation und den Kopf voller negativer Gedanken, auch mehr oder weniger zum Verlust des Zeitgefühls führen können, ist hingegen weniger bekannt. Nur wer mindestens einmal im Leben von einer depressiven Episode im Leben betroffen war, wird möglicherweise das Gefühl nach­empfinden können, vollkommen im bis­herigen Leben versagt zu haben und so nicht weiterleben zu wollen.
Die Gedanken kreisen in der Vergangenheit, hervorgeholt werden jedoch oftmals nur die negativen Erlebnisse, bei denen ein Betroffener wirklich ver­sagt hatte oder die zumindest nicht zu den glücklichsten Momenten und freudigsten Ereignissen im Leben gehörten. Bedingt durch dieses Kreisen in der Vergangenheit, bei gleichzeitig fehlender oder gedanklich negativer Orientierung auf zukünftige Vorhaben, wird das Zeitgefühl in Abhängigkeit von der Schwere der Depression mehr oder weniger stark beeinträchtig.

Wir möchten an dieser Stelle darauf verweisen, dass die geschilderten Symp­tome nicht für eine Verallgemeinerung geeignet sind, dazu ist das Krankheits­bild ein­schließlich möglicher Symptome zu vielschichtig. So können unter Depressionen Leidende zuweilen selbst kurze Wartezeiten als unerträglich lang empfinden oder mit einer zeitlichen Einteilung von routinemäßig zu erledigenden Aufgaben nicht klar kommen. Der Umstand, dass depressiv ver­anlagte Menschen je nach Schwere[1] der Erkrankung ein mehr oder weniger anderes Zeitgefühl besitzen als vergleichs­weise Gesunde, ist Gegenstand diver­ser Studien.[2]
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Metastudie der Johannes Gutenberg Universität Mainz, in deren Verlauf sich herauskristallisierte, dass bei depressiv veranlagten Probanden scheinbar nur das allgemeine Zeitemp­finden beeinträchtigt ist, nicht aber die Fähigkeit kurze Zeitintervalle richtig zu schätzen.[3] Für diese Metastudie wurden 16 Einzelstudien der letzten Jahr­zehnte ausgewertet.

Doch nicht nur bei unter Depressionen leidenden Menschen kann das Zeit­ge­fühl beeinträchtig sein. An Demenz Erkrankten ergeht es je nach Stadium und Schwere nicht anders oder noch schlechter. Je nach Form der Erkrankung und dem Grad der Beeinträchtigung reicht die Spanne bei Demenzkranken von Pro­blemen mit dem Datum bis zum völligen Verlust des Zeitgefühls, so dass Tag und Nacht durchein­andergebracht werden.

Veränderung des Zeitgefühls durch Schmerzen oder Fieber

Das starke Schmerzen die Zeit dehnen und strecken können, wird gewiss jedem bekannt vorkommen, der mehr als einmal die Zeit bis zum gewünschten "Schmerz lass nach Effekt" kaum ertragen konnte. Allerdings dürfte hier der verständliche Wunsch, dass die Zeit bis zum Nachlassen der Schmerzen mög­lichst schnell ver­gehen möge, mit eine gewisse Rolle spielen.
Doch nicht nur bei Schmerzen, auch fieberhafte Erkrankungen können Ver­ände­rungen der Zeitwahrnehmung bewirken. Nach Beobachtungen an Patien­ten, die unter fieberhaften Erkrankungen litten, dehnten sich für diese Patienten die gefühlten Zeiträume. Bei Fieber würde die innere Uhr schneller ticken als eine Kontrolluhr, so heißt es nach diversen Quellen. Im umgekehrten Fall, also bei Isolation und Unterkühlung, kam jedoch beim ersten Selbst­versuch von Michel Siffre nicht die innere Uhr aus dem Takt, sondern nur das Zeitgefühl. Bleibt die Frage, ob sich ähnlich bei Fieber auch nur das Zeitgefühl ändert, während die innere Uhr im Takt bleibt?
Dass es sich lediglich um ein verändertes Gefühl für die Zeit handeln könnte, welches durch die Auswertung von Signalen unterschiedlicher Organe entsteht, so zum Beispiel des Herzschlages, darauf lassen zumindest neuere Studien schließen.

Veränderung des Zeitgefühls beim Spielen

Dass die Zeit bei Sport und Spiel umso schneller verstreichen kann, je mehr wir mit Begeisterung dabei sind, wird sicherlich jeder zur Genüge in der Kindheit und Jugend erlebt haben und einige können das Spielen ihr Leben lang nicht lassen. Selbst nach dem Verlieren bekommen wir selten genug. Im Gegenteil, oft stachelt ein verlorenes Spiel nur dazu an, es im oder beim nächsten Spiel besser zu machen.
Ein zeitliches Problem mit dem Spielen könnte sich jedoch bei Online-Spielen einstellen. Hier taucht der einzelne Spieler sehr leicht in eine Welt ein, in welcher der Bezug zur Realität und der in dieser Realität gegebenen Zeit ver­loren geht.
Für Gelegenheitsspieler ist dieses Eintauchen in eine andere Welt mit einer ver­änderten zeitlichen Perspektive sicherlich nicht viel mehr als eine angenehme Erfahrung, insofern ein Spieler nicht nur stetig verliert und dieses wiederholte Verlieren in Frustration umschlägt. Doch selbst dann ist so ein Online-Spiel gewiss noch nicht sehr viel mehr als eine etwas weniger ange­nehme Erfahrung.

Auf ein ausgewachsenes Problem könnte jedoch häufiges Spielen hinweisen, da Menschen mit negativen Stimmungen im realen Leben sich häufiger als andere Menschen in eine Online-Spiele-Welt flüchten, um sich abzulenken und ihre negativen Emotionen für die Zeit des Spieles unbewusst abzubauen. Darauf lässt zumindest eine Studie schließen, die von tschechischen Wissenschaftlern an der Karls Universität von Prag durchgeführt wurde.[4]
 

Weitere Themen, Fragen und Antworten


Wie entsteht unser Zeitgefühl?
Diese Frage ist noch nicht restlos geklärt. Es weist jedoch vieles darauf hin, dass es kein spezielles Sinnesorgan für die Wahrnehmung der Zeit gibt. [mehr ...]

Vergeht die Zeit mit jedem Lebensjahr etwas schneller?
Ja und Nein, wobei sich das "Ja" nur auf die subjektive Wahrnehmung der Zeit bezieht. [mehr ...]
 

Fußnoten – Anmerkungen und Quellen:

1 Die Schwere bzw. der Schweregrad einer depressiven Erkrankung kann durch einen psychologischen Fragebogen erfasst werden und wird dann in Studien mit dem Kürzel BDI (Beck-Depressions-Inventar) angegeben.

2 Entsprechende Studien lassen sich bei wissenschaftlichen Online-Datenbanken durch Suchbegriffe wie "Time Perception" und "Depression" oder "Depressive realism" abfragen.

3 S. Thönes, D. Oberfeld: Time perception in depression: A meta-analysis, Journal of Affective Disorders (2015) 359–372, doi:10.1016/j.jad.2014.12.057

4 K. Lukavska, Time Perspective as a Predictor of Massive Multiplayer Online Role-Playing Game Playing, Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, January 2012, 15(1): 50-54, doi:10.1089/cyber.2011.0171

 

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