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Eltern, Kinder und Kinderarbeit

Vom Leben der Familien in Ecuador

Auf meinem Reisepass sprießen grüne Schimmelflocken und die Häkchen meiner Büstenhalter sind von einer feinen Rostschicht überzogen. Es lässt sich schwer leugnen, dass ich mich im tropischen Regenwald befinde, daran erinnern mich auch regelmäßig diverse "Besucher" in meinem Zimmer. Wäh­rend ich mich mit den Kakerlaken schon ein wenig angefreundet habe und mein Kakaopulver mit ihnen teile, welches ich als Schokoladenersatz in Zeiten akuten Zuckermangels löffle, versuche ich den handtellergroßen Spinnen freundlich aber bestimmt klarzumachen, dass sie sich doch bitte einen anderen Schlafplatz suchen sollen.
Da ich schon in Deutschland etwas arachnophobisch unterwegs war, und ich mir mit meinen erbärmlichen zwei Armen einem Gegenüber mit acht davon irgendwie unterlegen vorkomme, machen sich in mir Berührungsängste breit, die dazu führen, dass derartige Überredungskünste durchaus die halbe Nacht dauern können.
Etwas übermüdet erscheine ich also am nächsten Tag in der Schule, wo mir im Klassenraum der 7 b als allererstes eine Riesentarantel ins Auge fällt. Sie scheint einen ausgeprägten Sinn für Symmetrie zu besitzen (wahrscheinlich hat sie sich in einer Schule niedergelassen um sich in Geometrie weiterzubilden) und hat es sich just im Mittelpunkt der Frontwand, knapp über der Tafel bequem gemacht.

Um mich vor meinen Schülern nicht bis auf die Knochen als Erste-Welt-Gringa zu blamieren, unterdrücke ich den Drang, mich ausgiebig zu schütteln und sorge für Ausgelassenheit, als ich vorschlage, bei einem Spaziergang in der näheren Umge­bung, deren Pflanzen, Tiere und Gegenstände zu erkunden, um diese anschließend auf Englisch zu notieren.
Während wir auf Trampelpfaden durch die tropische Pflanzenwelt wandeln und auf Wackelbrücken Flüsse überqueren löchern mich die Kinder begeistert und wissbegierig. So komme ich mit diesen dann auch schnell ins Gespräch (mein Spanisch reicht mittlerweile etwas über "Buenas dias" und "gracias" hin­aus..) und erfahre etwas mehr über deren Lebensumstände. Diese scheinen leider häufig gar nicht so einfach zu sein. Bei der Frage nach ihren Eltern, sprechen viele nur von ihren Müttern, Väter besitzen sie nicht, so behaupten sie. Oft dafür aber einen "padrastro" einen Stiefvater, der nicht immer unbe­dingt besonders liebenswürdig zu sein scheint. Auch die Bestrafungsmethoden, mit denen den Kindern der Ungehorsam ausgetrieben werden soll, schockieren mich doch ein wenig.
So erfahre ich, dass der Grund für so manch rotgeschwollenes Auge "aji" ist, eine scharfe Chilisubstanz, die die kleinen "Bösewichter" ins Auge gedrückt bekommen. Auch das Brennen einer Narbe ins Gesicht scheint nicht unüblich zu sein, um den Kleinen ihre Missetat nachhaltig im Gedächtnis zu verankern. Sicherlich bezieht sich das nicht auf alle Familien, dennoch höre ich auch später noch häufiger ähnliche Geschichten, die mich betroffen machen, komme ich doch aus einem Land, in welchem mittlerweile per Gesetz jeglicher Klapps auf den Hintern untersagt ist.

Als ein weiterer, aus europaeischer Sicht untragbarer Aspekt in Bezug auf das Leben der Kinder hier, erscheint mir deren häufige Verpflichtung zur Mithilfe in der Aufstockung des Familieneinkommens. Es ist nicht DIE Kinderarbeit, die wir vor Augen haben, wenn wir dieses Wort in Europa hören, keine Fabrik­arbeit, keine kleinen Kinderhände, die zu fließbandartigen Webarbeiten ver­pflichtet werden, aber dennoch eine Einschränkung in der Freizeit und Kindheit der kleinen Indios. So helfen viele am Nachmittag und Abend in den Restaurants oder Läden ihrer Eltern mit, oder aber sie verdingen sich in fremden, wohlhabenderen, oft weißen Familien als Haushaltshilfen und Kinder­mädchen.
Neben dem Mitleid das ich empfinde, macht sich ein großes Schamgefühl in mir breit, als ich einen kleinen, vermeintlich besonders faulen Schüler von mir abends in der Stadt treffe, wo er, von seiner Mutter zubereitete Maiskuchen in einem Eimer schleppt, und versucht, diese an den Mann zu bringen. Mir wird klar, dass ich von keinem Blickwinkel aus meine deutschen Maßstäbe ansetzen kann und ich meine Ansprüche in Bezug auf die Englischaufnahmefähigkeiten der Kinder weiter herunterschrauben muss und so beschließe ich, ihnen wenigstens ein paar Stunden in der Schule die Möglichkeit zum Spielen und zum spielerischen Lernen zu geben.

Anja Bosch, im Mai 2009 – Erlebnisse in Ecuador – Kapitel III

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Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare:

Allgemeine Anmerkung von H. Müller

Kinderarbeit wird in Ecuador von Seiten der Regierung keinesfalls gebil­ligt. Im Gegenteil, dass ecuadorianische Ministerium für Arbeit und Be­schäftigung setzt seit dem Jahre 2004 Inspekteure ein, um in unregel­mäßigen Abständen einschlägige Produktionsstätten zu kontrollieren. Unternehmen, die Kinder beschäftigen, müssen mit Geldbußen von bis zu 5.000 $ rechnen.
Dennoch zeigen diese Kontrollen nur wenig Erfolg. Nach aktuellen statistischen Angaben verrichten rund 10 % aller Kinder zwischen 5 und 14 Jahren mehr oder weniger regelmäßig Kinderarbeit. Sehr häufig werden Kinder für die Arbeit auf Plantagen von den Unternehmen beschäftigt, von den Eltern als Dienstmädchen und Dienstboten vermittelt oder müssen im Auftrag der Eltern den Müll auf den Deponien am Rand größerer Städte nach verwertbaren Abfällen durchsuchen.

Der Grund dafür fußt auf gesellschaftliche Missstände und diese Miss­stände sind nicht durch Kontrollen zu beseitigen. Etwa 70 Prozent der Kinder in Ecuador leben mehr oder weniger in Armut, rund 40 Prozent der Bevölkerung verbleibt umgerechnet ein Einkommen von weniger als 2 US-Dollar pro Tag und Kopf und rund 16 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der international mit 1 US-Dollar pro Tag und Kopf festgelegten Armutsgrenze. Weiterhin kommt hinzu, dass viele junge Familienväter ins Ausland abwandern, in der Hoffnung dort ein besseres Einkommen zu erzielen. Bedingt durch eine recht hohe Abwanderungsrate werden Familien entzweit, wobei die Kinder letztendlich die Leidtragenden sind.

Dass Kinder den Eltern bei ihrer täglichen Arbeit helfen oder eigene Aufgaben übernehmen müssen, gehört in allen Ländern mit einem gerin­gen Durch­schnittseinkommen zur täglichen Normalität. Ecuador stellt in dieser Beziehung keine Ausnahme dar. Vielmehr handelt es sich bei der Kinderarbeit um ein globales Problem, mit dem die meisten Touristen nicht konfrontiert werden möchten, wenn sie im Urlaub ein Land bereisen.

Um die Lage der Kinder und Familien in Ecuador weiter zu verbessern, beteiligt sich das Kinderhilfswerk UNICEF am Aufbau von Anlaufstellen für Kinder und deren Familien in den Städten Quito, Empalme, Machala, Manta, Cuenca, Esmeraldas, Santo Domingo de los Colorados sowie Galapagos. Insgesamt sollen in den nächsten Jahren durch UNICEF rund 160 Sozialarbeiter, sowie Rechts- und Gemeindevertreter geschult werden, damit diese den Kindern von sozialschwachen Familien besser helfen können. Weiterhin arbeitet UNICEF bereits in elf Städten Ecuadors mit den verantwortlichen Behörden zusammen, um dem Verbot der Kinderarbeit auf den Müllkippen der Städte etwas mehr Nachdruck zu verleihen.

 

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