Ich bin eine Gringa hier. Das erkennt man nicht nur an meinem
blonden "Puppenhaar", an meiner, die übliche Bevölkerung überragenden Statur
und an meinem europäischen Aussehen, sondern auch an der Geschwindigkeit, mit der
ich mich fortbewege. Während die Einheimischen scheinbar ziellos durch die staubigen
Strassen schlendern, in Hauseingängen sitzen und sich mit ihren Nachbarn unterhalten,
renne ich in hektischen Schlangenlinien um sie herum. Warum? Weil ich europäisch
getrimmt bin, Zeit einzusparen wo möglich (schnell gehen, Simultanaktivitäten
ausführen, knapp kalkulieren, kurz angebunden sein) um diese "eingesparte
Zeit" für anderes zu nutzen: Geld, Genuss.
Zur Erlangung des Ersteren, ist es mir gelungen, eine kleine Gruppe von Kindern
zusammenzustellen, die nachmittags privaten Englischunterricht von mir erhält. Außerdem
mache ich mir meinen einjährigen Italienaufenthalt zunutze, während dem ich Pizza
backen gelernt habe, die ich nun hier in meinen freien Stunden produziere und verkaufe.
Den Genuss versuche ich, wo immer möglich, dazwischenzuquetschen.
So renne ich also von der Schule nach Hause um mich "wenigstens" noch eine halbe Stunde aufs Ohr legen zu können, bevor es an die Privatlektionen geht. Von diesen wiederum renne ich nach Hause um schnell meine Sachen zu packen um noch "wenigstens" ein bisschen Genuss in der Sonne am Fluss verbringen zu können, bevor diese nach (ausnahmsweise immer pünktlicher) äquatorianischer Zeit um 18:00 Uhr untergeht.
Wenn ich am Fluss ankomme regnet es. Ich renne nach
Hause um die Regenzeit zu nutzen um meinen Unterricht vorzubereiten, oder um Pizza
zu machen. Während diese im Ofen backt schaue ich hektisch auf die Uhr weil ich unbedingt
auch noch "aktiv genussvoll" Zeit mit meinen Freunden am Abend verbringen
will...
Soviel also zu einem meiner Hauptmotive, mit denen ich hier angereist bin: Das schöne
Unwort, das hier keiner kennt, sondern welches in den verzweifelten Köpfen kapitalistischer
Industriestaatler entstanden ist: Entschleunigung.....
Schon in der ersten Woche schrieb mir mein Koordinator in mein "all-in-one" -Heft, in dem ich Vokabeln, Adressen, Liedtexte, Sprüche und Ortsbeschreibungen sammle, Folgendes:
"Es mejor disfrutar lo qué haces,
qué hacer lo qué disfrutas."
"Es ist besser das zu geniessen was Du tust,
als das zu tun was Du geniesst."
Bis vor kurzem dachte ich: "Hae, ist doch das Gleiche!" Aber ich beginne zu verstehen was wirklich gemeint ist.
Bild rechts und unten: © Anja Bosch
Die Menschen hier trennen nicht zwischen Arbeit und Freizeit, Familie, Freunden und Spass. Alles findet beständig den ganzen Tag über hinweg statt, mal mehr so gefärbt, mal mehr so. Die Lehrer lachen mit ihren Schülern und albern herum, während die Gringa mit dem Stock auf den Tisch haut, weil ihre Unterrichtszeit nicht ernst und effektiv genutzt wird. Und schließlich will sie, dass die Schüler (schnell, zeitsparend) lernen! Aber langsam beginnt auch die Gringa zu begreifen.
Natürlich lässt eine Vielzahl der hiesigen typischen
Erwerbstätigkeiten dieses Leben auch zu und prägt es.
Wenn hier beispielsweise eine Indígena den ganzen Tag gearbeitet hat, war sie morgens
früh im Wald, hat Früchte, Nüsse, Samen oder andere Dinge gesammelt und geerntet
und verbringt dann den Rest des Tages an einer Straßenecke gemeinsam mit ihren Kindern
und Freundinnen um etwas zu verkaufen.
Oder sie steht hinter einem der Straßengrills, auf denen überall den ganzen Tag lang Kochbananen, Mais und Hähnchen brutzeln und hält mit den vorbeischlendernden Bekannten Schwätzchen. Die Kinder der Tante-Emma-Laden-, und Restaurantbesitzer tollen in denselben mit ihren Geschwistern auf dem Boden herum, oder lassen sich von ihren Eltern bei den Schulaufgaben helfen und werden jeweils nur kurz von der besuchenden Kundschaft unterbrochen. Nicht selten packen die Kleinen dann auch mit an und so kann es passieren, dass mir ein 10-jaehriger Junge ein besonders effektives Insektenschutzmittel empfiehlt, welches letztendlich dann aber doch nicht verhindern kann, dass die Hälfte meines Blutes in Mosquitobäuchen durch die ecuadorianische Amazonasluft fliegt.
Anja Bosch, im April 2009 – Erlebnisse in Ecuador – Kapitel II
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Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare: