Meine nächste Station ist Cuenca. Ich beschließe, sollte ich im
Laufe des Freiwilligenjahres in Ecuador Europaheimweh bekommen, einfach noch einmal diese
Stadt aufzusuchen. Es gibt hier richtige gepflegte und gepflasterte Straßen und weihnachtlich
geschmückte, blinkende Häuser. Gute Autos, europäisch/amerikanisch gekleidete Menschen,
Schaufenster mit Markenkleidung und richtigen Kaffe! Cuenca ist für mich nach 7 Wochen
Dschungel ein kleiner Kulturschock.
Entstanden ist der Reichtum in dieser Region, so lasse ich mir sagen, wohl hauptsächlich
durch ehemals in die USA ausgewanderte und mit Geld wieder heimgekehrte Ecuatorianer, die
begannen, ihre Häuser auf Vordermann zu bringen und die Gegend zu industrialisieren. Das
trägt dazu bei, dass die Stadt mit ihren wunderschönen, zum Teil kuppelbedeckten Kirchen
und Kolonialbauten und dem angenehm gemäßigten Klima sehr an eine spanische Stadt
erinnert.
Da ich hier keine Couchsurfer gefunden habe, nächtige ich in einem kleinen billigen
Hostal, in dem ich mich mit einem taubstummen Peruaner anfreunde und so schlendere ich mit
diesem durch die Stadt und an ihrem prächtigen Flussufer entlang. Wilson, 25 Jahre alt,
geboren in Lima, mittlerweile jedoch heimatloser fahrender Straßenverkäufer von
geflochtenen Armbändern, bringt mir das Taubstummenalphabet bei und erzählt mir mit
Händen und Füßen und einem Mix aus zu Papier gebrachten Buchstaben und Zeichnungen
seine traurige Geschichte:
In einem Streit erschoss sein Vater seinen älteren Bruder, Wilsons einzigen Freund und
Vertrauten. Der Rest seiner Familie mochte ihn weder unterstützen, noch konnte sie ihm
Liebe geben und so verließ der ungewollte Sohn die Heimat und schlägt sich seitdem
alleine durch. Wenn er seine Bändchen ausverkauft hat, lässt er sich neue aus Peru
schicken und reist weiter. Seine nächsten Ziele sind Kolumbien und Venezuela. Da zahlen
die Touristen mehr, gibt er mir zu verstehen. In ein paar Jahren könnte er es vielleicht
nach Europa schaffen. Das ist sein großer Traum.
Mit einer Geste fragt mich Wilson ob ich Hunger habe und als ich nicke zupft er mich am
Ärmel und bedeutet mir, ihm zu folgen. Mit einer Mischung aus Neugier und Ängstlichkeit
folge ich Wilson durch die Gassen Cuencas, in denen sich zunächst noch schmucke Häuser
im Kolonialstil aneinander reihen bis wir das Stadtzentrum schließlich hinter uns lassen
und die Straßen breiter und die Gebäude schäbiger werden. Wilson scheint sich zu
verirren, suchend blickt er sich ein paar mal um und wechselt die Richtung bis es
schließlich durch ein Stahlgittertor und eine Hinterhoftreppe die Stufen hinauf geht und
er vor einer Wohnungstür haltmacht und klingelt.
Wieder einmal frage ich mich, ob man mich eher als eine weltoffene Menschenkennerin oder
eine grob-fahrlässige, naive Wahnsinnige ohne Sinn und Verstand bezeichnen würde. Ich
denke mir, die Mischung machts und bin erleichtert als uns ein kleines 5-jähriges
Mädchen öffnet, während hinter ihm eine Frau, wahrscheinlich die Mutter, auftaucht und
uns wortlos mit freundlichen Augen und einem herzlichen Lächeln willkommen heißt.
Fernab des üblichen Tourismusses (oder dem was man darunter versteht...) komme ich in den
folgenden zwei Stunden bei typisch ecuadorianischer Hausmannskost in den Genuss einer
lautlosen Tischkonversation, während der ich, dank Wilsons Zeichensprachunterricht,
einiges über die Bindung der Taubstummen untereinander erfahre. So unterhalten diese per
E-Mail oder Webcam Kontakte zu vielen anderen Taubstummen in diversen südamerikanischen
Ländern, bezeichnen sich als eine grosse Familie und helfen einander. Ich bin beeindruckt
und spiele und singe ein wenig mit dem kleinen Mädchen, die Einzige dieser Familie, die
sprechen und hören kann und sich sichtlich über meine Anwesenheit freut.
Ziemlich berührt von dem Einblick in ein abermals so unterschiedliches Leben verabschiede
ich mich nach zwei Tagen von Wilson. Er macht sich auf in den Norden während mich meine
Reise weiter in Richtung Süden führt.
Anja Bosch, im Juni 2009 – Erlebnisse in Ecuador – Kapitel IV
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Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare: