Nach einem recht unspektakulären Zwischenstopp in der eher
langweiligen Provinzhauptstadt Loja, wo ich bei netten, für den Peace-Corps tätigen
Amerikanern nächtige, mache ich mich pünktlich zum Heiligen Abend auf den Weg zu
einer Farm in den Bergen Südecuadors nahe der peruanischen Grenze, wo ich für ein
paar Tage gegen Kost und Logis arbeiten möchte. Die im Übrigen elektizitäts- und
telefonnetzfreie Farm ist auf dem Verkehrswege nicht zu erreichen und so suche ich
nach der ohnehin mal wieder abenteuerlichen Busfahrt hinter den Häusern des letzten
Dorfes vor Beginn der Wildnis den richtigen Pfad in die Berge.
Lediglich mit einer Wegbeschreibung und einem katastrophalen Orientierungsvermögen
ausgestattet, wandere ich am Spätnachmittag des 24. Dezembers auf Trampelpfaden,
über Flüsse und Bäche, inmitten der abgefahrensten farbig schillernden Schmetterlinge,
unter Avocado- und Maracuja-Bäumen hindurch, an versteckten Hanffeldern vorbei, eine
Stunde lang in einen verwilderten Garten Eden. Kurz bevor es absolut stockdunkel
ist (und ich am Rande der Verzweiflung bin), erreiche ich mein Ziel, ein Niemandsland
mitsamt seiner abgefahrenen Insassenschaft, einer Kommune aus vornehmlich Hippie-Travellern.
Gemeinsamer Nenner aller Insassen: Alle haben eine Psychotherapie hinter sich und
viele sind der Drogenwelt nicht ganz unabgewandt. Ok verständlich, in dieser Gegend
schießen nicht nur die himmlischsten Obst- und Gemüsesorten im wilden Durcheinander
empor, sondern auch der eine oder andere halluzinogene Kaktus, - oder- besonders nach
einer etwas feuchteren Nacht im Nebelwald auch der eine oder andere Pilz in den Exkrementen
der Kühe, deren Milch wir trinken. Obwohl ich – aufgrund meiner starken Persönlichkeit,
so bilde ich mir ein – der Versuchung standhalte, erlebe ich die Woche in dieser Gegend
in einem traumartigen Schwebezustand, der definitiv nicht von dieser Welt ist und
sich schwer in Worte fassen lässt. Es ist zu schön, zu paradiesisch, zu weit weg von
jeglicher Realität.
Wir reiten auf Pferden, die mehr oder weniger wild auf dem verwilderten Gelände abhängen,
durch eine irrsinnig traumhafte Landschaft, deren Farbpalette von diversen Terrakottaabstufungen
über ockergelb und erdbraun bis hin zu jeglichen Grüntönen reicht, die man sich nur
ausmalen kann und die wiederum mit den bunten Tupfen der Früchte- und Gemüsesorten
gesprenkelt sind. Ich schmuse mit Hundewelpen, bereite Multivitaminsaft aus zusammengesammelten
Früchten zu, wasche meine Wäsche im Fluss (aus dem wir übrigens auch trinken) und
blicke inmitten tausender Düfte immer wieder staunend um mich.
Abends versuche ich, die Eindrücke in der Hängematte vor meiner kleinen einsamen
Hütte, die mir zugeteilt wurde, schaukelnd zu verarbeiten. Hierfür bietet sich mir
ebenfalls eine gigantische Atmosphäre: Unter einem sternklaren dunkelblauen Himmel
erheben sich die schwarzen Silhouetten der mich umgebenden Berge, vor denen wiederum
abertausende von Glühwürmchen umherfliegen und blinkend die Sterne imitieren. Ich
bin umgeben von einer schwarzblauen Nacht und funkelnden Lichtern ringsherum.
Nach der ebenso surrealen wie zeitlosen Woche in den Bergen Vilcabambas führt mich
meine Reise zum Ende des Jahres in die Küstenstadt Machala, in eine – was ich zum
jeweiligen Zeitpunkt allerdings nicht weiß – der gefährlichsten Gegenden Ecuadors.
Allerdings habe ich hier in Sofia eine wunderbare Couchsurfing-Connection gefunden,
sie hat mich, ohne mich zu kennen, dazu eingeladen, hier mit ihrer Familie Silvester
zu feiern.
Mit einem 20-jaehrigen Ami im Gepäck (er arbeitete mit mir auf der Farm in Vilcabamba
und ich traf ihn zufällig beim Umsteigen in Loja, wo er feststellen musste dass –Wunder
was- alle Busse nach Peru ueber Silvester hin komplett ausgebucht waren) werde ich
also von der ebenso divenhaften, wie attraktiven Latinomutter von Sofia in Empfang
genommen, sobald wir in der Bananenhauptstadt landen.
Dass ich den kleinen US-Amerikaner im Schlepptau habe ist kein Problem, die Familie
ist wie erwartet riesig und auf einen oder zwei mehr oder weniger kommt es nicht an.
So sorgen wir also für einen alkoholgefüllten Kühlschrank und verbringen die komplette
Nacht durchtanzend in der Einfahrt des Familiendomizils. Um 24:00 Uhr legen wir
eine kurze Pause ein und verschlingen zu jedem Gongschlag der Kirchenuhr eine Weintraube,
zu der wir jeweils innerlich einen Wunsch aussprechen sollen. Ich bin erschlagen ob
des immensen Wunschkontingents und des dafür zu Verfügung stehenden, etwas knappen
Zeitraum und stiere hypnotisiert wie ein Kleinkind im Spielzeugkaufhaus auf die preziösen
Früchte in meiner Hand, ehe die Uhr zu schlagen beginnt:
"Gong" Glück
"Gong" Gesundheit (*ähh für wen eigentlich, muss ich das genauer formulieren?*)
Also gut,
"Gong" dass es der Hera (meinem Pferd, welches ich für diese Reise abgegeben habe…) gut geht
"Gong" dass es meiner Familie gut geht (*kann man da Glück und Gesundheit in einem Wunsch vereinigen oder bedarf es dafür jeweils einer Traube?*)
"Gong" dass es allen meinen Freunden gut geht (*s.o., oder ist Gesundheit in "Glück” inkludiert?*)
"Gong" dass es allen Menschen auf der Welt gut geht (*s.o., ok wenn ich am Ende meiner Wünsche noch Trauben übrig habe, werde ich differenziert Gesundheit und Glück wünschen!*)
"Gong" dass es allen Tieren auf der Welt gut geht
"Gong" Weltfrieden
"Gong" dass ich noch viele solcher verrückt-genialen Reisemomente in meinem Leben erleben darf
"Gong" dass ich ein glückliches und spannendes Leben vor mir habe
"Gong" dass glücklich bin in dem was ich tue (*wiederhole ich mich? bin ich egoistisch?*)
"Gong" dass alle anderen auf der Welt glücklich sind (*totale Konfusion, sind in "alle anderen" auch Tiere inkludiert, hatte ich das schon gewünscht, sollte ich lieber für alle Gesundheit wünschen? - Egal, wo ist der Sekt!?!?!?*)...........
Ok, es geht origineller, aber zu meiner Entschuldigung sei wie gesagt zu berücksichtigen,
dass ich etwas unter Zeitdruck stand...
Nachdem also die Trauben verschlungen und die bunt bemalten Pappmachepuppen (ein
spanisch-valencianischer Kulturimport? Es wusste keiner so recht..) auf der Straße
verbrannt sind, zueckt der Nachbar von Gegenüber eine Pistole und feuert einen Schuss
in die Luft ab. Obwohl wir ihm, wohlgesonnen, eine, ihn plötzlich überkommende Neujahrseuphorie
unterstellen, verlassen wir vorübergehend die Einfahrt und ziehen uns ins Haus zurück,
wo das Silvestermahl auf uns wartet. Anschließend tanzen wir weiter in der Einfahrt
bis zum Sonnenaufgang um 6:00 Uhr morgens.
Um 7:00 Uhr besteigen wir zu dritt einen Bus in die Handels- und Hafenstadt Guayaquil
um von dort aus weiter an der Küste entlang gen Norden nach Montañita zu fahren, wo
diverse Couchsurfingfreunde von Sofia auf uns warten. In Montañita, der Surferhauptstadt
des Landes, erwartet uns am Abend des 1. Tages des neuen Jahres ein Jahrmarktstreiben,
welches mich abermals in einen neuen Kulturschock versetzt: Hippies, Rastas und allerlei
alternatives Gringovolk jongliert, musiziert, flaniert und tanzt in Surfershorts in
den staubig-sandigen Gassen des Ortes, der mit seinen Holzhäusern und den sich davor
befindlichen Holzterassen ein bisschen an eine Westernstadt erinnert. Mit dem Unterschied,
dass die Hälfte der Dächer mit Palmblättern bedeckt ist und nicht Western-, sondern
Salsa-und Merengueklänge in die Nacht hinaus, aufs Meer und in den Sternenhimmel
wummern. Zwei Nächte lang quetschen wir uns zu 8 (jeweils zu zweit auf einer Matratze)
für 6 $ pro Nase in eines der Saloongebäude und feiern was das Zeug hält. Tagsüber
sitze ich am Strand und schmachte die Wellen an, auf denen zu reiten ich mich nicht
getraue, da mein Budget rapide schrumpft und der Boardverleih 10 $ pro Tag kostet.
Der Verzicht auf das Surfen scheint nicht das Dümmste gewesen zu sein, 9 Tage vor
Ende meines "Urlaubs" zähle ich exakt 70 $ in meiner Reisekasse, was etwa
50 Euro entspricht. Da ich, wie schon erwähnt, aus eigener Dummheit heraus meine
EC-Karte vor Beginn meiner Reise aktiv gesperrt habe war ich also gezwungen mit meinem
kompletten Travelbudget zu reisen, was in südamerikanischen Ländern vielleicht nicht
unbedingt zu empfehlen ist und was abgesehen davon eines guten Kalkulationsvermögens
bedarf... Dafür bin ich nun Weltmeisterin im Verstecke finden und sollte mich, zur
Aufbesserung meines Volontärgehalts, vielleicht ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigen,
in den ecuadorianischen Drogenschmuggel einzusteigen.
Tatsache ist jedenfalls, dass ich nun einen mich ansprechenden, günstigen Ort finden
muss und den letzten Teil meiner geplanten Reiseroute (den Quilotoa-Loop und Baños)
auf ein anderes Mal verschieben muss. Eine weitere Tatsache ist, dass es eine gute
Wahl war, nicht Wirtschaft sondern Sport zu studieren..
So mache ich mich also alleine auf in Richtung Puerto Lopez, was von meinem Reiseführer
als malerisch und bezahlbar deklariert wird, und außerdem zumindest grob auf dem Weg
zurück nach Tena liegt. Während ich im Bus sitze und aus dem Fenster die vorbeifliegenden
Küstenorte betrachte, entdecke ich ein kleines idyllisches Dorf, das den hellblau
auf Holz gepinselten Namen "Las Tunas" trägt und an einem kilometerlangen,
breiten und feinen Sandstrand liegt, der mit Wellen gesegnet ist, die das Surferherz
höher schlagen lassen.
Im schwäbischen Zwiespalt des "ich habe die Fahrt bis Puerto Lopez (2,50 $)
bereits bezahlt und kann doch jetzt nicht früher aussteigen"-Konfliktes sitze
ich hibbelig auf meinem Platz und hoffe, dass Puerto Lopez mindestens doppelt so schön
ist und wir bald ankommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist es soweit. Ich steige
aus und finde mich in einer Stadt wieder, die die negativen Seiten meiner vorübergehenden
ecuadorianischen Heimatstadt Tenas in sich vereinigt, wieder: Laut, dreckig, ein
Touristenbüro nach dem anderen und ausnahmslos Gringos in den für Ecuatorianer (und
arme Volontäre..) völlig überteuerten Cocktailbars und Tourirestaurants am Strand.
On top of this: keine einzige Welle, die in der geschützten Bucht ein Lächeln auf
meine Lippen zaubern könnte.
Innerhalb von zehn Minuten ist mir klar, dass ich hier keine Minute länger verschwenden
möchte und kurzerhand steige ich in den nächsten Bus, der zurück in Richtung Montañita
fährt.
Anja Bosch, im Juni 2009 – Erlebnisse in Ecuador – Kapitel IV
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Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare: